Editorial: Frühe Hilfen - Beziehungsarbeit mit Risiko

Translated title of the contribution: Editorial: Early childhood intervention - Relationship management with risks

U. Thyen*

*Corresponding author for this work
1 Citation (Scopus)

Abstract

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

im vorausgegangenen Oktoberheft des Bundesgesundheitsblattes wurden die Frühen Hilfen als ein neuer Hilfetypus (Pott) vorgestellt und die strukturellen Merkmale, konzeptionellen Überlegungen und wissenschaftlichen Hintergründe ausführlich dargestellt. Ein Schwerpunkt bildete die Reflexion über die Vernetzung der verschiedenen Hilfesysteme aus Gesundheitswesen, Jugendhilfe, Schwangerschaftsberatung und Frühförderung. Das Zusammenwachsen der Systeme zum Wohl von Kindern und ihren Familien wird ein Schwerpunktthema der nächsten Jahre und möglicherweise Jahrzehnte bleiben. Die Zersplitterung der Hilfen für Kinder mit und ohne Behinderung, die fragwürdige Trennung der Risiken für geistige und körperliche Behinderung sowie psychosoziale Risiken geraten zunehmend in den Fokus der Politik. Sie waren auch Gegenstand des 13. Kinder- und Jugendberichtes der Bundesregierung und Gegenstand der Anhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages im Oktober des Jahres.

Die zentralen Inhalte der UN-Kinderrechtskonvention sind die Rechte der Kinder auf gesundes Aufwachsen in ihrer Herkunftsfamilie, die Förderung ihrer Entwicklungs- und Bildungschancen, die Teilhabe in der Gesellschaft und der ungehinderte Zugang zu Einrichtungen des Gesundheitswesens und der Jugendhilfe. Im Mittelpunkt der in jüngster Zeit unterzeichneten UN-Behindertenrechtskonvention steht die Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Beide Anliegen müssen und können zusammen gedacht werden. Dies kann in den Frühen Hilfen aufgrund der Vernetzung mit dem Gesundheitswesen, der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe in exemplarischer Weise geschehen.

Auf Ebene der nationalen, regionalen und kommunalen Hilfesysteme verlangt dies eine Kooperation auf Praxisebene, aber auch eine gemeinsame Reflexion der Konzepte, der Möglichkeiten ihrer Umsetzung sowie der gemeinsamen Erfahrungen. Zu einer Qualitätsentwicklung gehören daher:

starke Beteiligung und Rückmeldungen über die Qualität und den Erfolg der Hilfen durch die Hilfeempfänger selbst, die über qualitätssichernde Zwischen- und Abschlussbefragungen, über Fokusgruppen oder gemeinsame Workshops mit professionellen Helfer/innen eingeholt werden können,

Stärkung der Selbstwirksamkeit der Hilfeempfänger und konkrete Informationen über weitergehende Möglichkeiten der Unterstützung bei Konflikten mit dem Hilfesystem (zum Beispiel durch Familiengerichte),

reflexive Haltung der Helfer und Möglichkeit zur Supervision,

regelmäßiger Austausch zwischen den Trägern und wachsende Kenntnis über die verschiedenen Berufsfelder, Aufgaben, gesetzlichen Bindungen und Vergütungssysteme,

Reflektionen unter den Sub-Systemen auf regionaler Ebene über die Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität der Kooperation.

Im vorliegenden Heft soll es verstärkt um die Inhalte der Arbeit in den Frühen Hilfen und die Erfahrungen aus den Praxismodellen gehen. Gemeinsames Ziel der Frühen Hilfen ist es, „Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern in Familie und Gesellschaft frühzeitig und nachhaltig zu verbessern“. Aber wie genau geschieht das? Wie funktioniert Frühe Hilfe? Auf der Mikroebene des unmittelbaren Hilfeprozesses werden wir sehen, wie alle oben genanten Faktoren eingelöst werden können und Hilfe in der zwischenmenschlichen, professionellen Beziehung gelingen kann.

Zentrales Element in den Modellversuchen zu Frühen Hilfen ist die Stärkung der elterlichen Feinfühligkeit, beispielsweise im Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ (Eickhorst et al.). Von Bedeutung ist, dass hier nicht nur die mütterliche, sondern auch die väterliche Feinfühligkeit evaluiert wurde. Die Rolle von Vätern hat sich in den letzten Dekaden dramatisch verändert, sowohl im Hinblick auf die Erwartungen an moderne Väter, aber auch im Hinblick auf ihre wachsende Bereitschaft, sich an der Betreuung sehr junger Kinder in der Familie zu beteiligen. Die Ergebnisse bedeuten, dass sich professionelle Helfer/innen nicht nur auf komplexe psychosoziale Belastungssituationen einstellen müssen, sondern auch geschlechtsspezifische Anpassungsreaktionen und unterschiedliche Copingstrategien und Kompetenzen bei Vätern und Müttern in Rechnung stellen müssen.

Bei den psychosozialen Belastungen spielen neben den ökonomisch oft prekären Lebenslagen seelische Erkrankungen oder Substanzabhängigkeit bei Eltern eine herausragende Rolle. Den Helfer/innen werden Kenntnisse über psychische Symptome abverlangt, weitergehend auch die Bereitschaft, offen mit diesen Themen umzugehen, gerade wenn die Betroffenen noch keine psychiatrische Behandlung in Anspruch genommen haben, was häufig der Fall ist (Kluth et al.). In der erfolgreichen Beziehungsarbeit spielen die emotional-sozialen Kompetenzen und der eigene biografische Hintergrund der Helfer/innen eine große Rolle (Suess et al.). Ausschlaggebend für eine konstruktive Zusammenarbeit ist Vertrauen, das sich aus Klientenorientierung, Verfügbarkeit und anwaltschaftlichem Engagement der Helfer/innen entwickelt, wobei diese wiederum abhängig sind von anderen Akteuren des sie umgebenden Hilfesystems (Ayerle et al.). Mit welchen Herausforderungen der Aufbau und die Nutzung von lokalen Netzwerken behaftet sind, zeigt die Analyse aus dem Projekt „Guter Start ins Kinderleben“ (Künster et al.).

Nicht nur in fallbezogenen Kooperationen, sondern auch in der institutionellen Kooperation sind vermeintliche oder tatsächliche Hemmnisse durch den Datenschutz für die Arbeit in den Frühen Hilfen relevant. An der Schnittstelle zwischen Frühen Hilfen und den Jugendämtern können bei Vorliegen einer erkennbaren Kindeswohlgefährdung rechtlich belastbare Verfahrensweisen entwickelt werden (Schönecker). Unklar bleiben allerdings Art und Umfang des interinstitutionellen Austausches im präventiven Bereich und zum Zweck der Einschätzung der familiären Belastungssituation. Während in der Akutmedizin, namentlich der Kinder- und Jugendmedizin und der Kinderchirurgie, hohe professionelle Kompetenzen bestehen, manifeste Zeichen oder wegweisende Symptome zu erkennen (Hermann), wird ein optimales integriertes Betreuungsangebot derzeit aufgrund fehlender psychosozialer Ressourcen im Gesundheitswesen noch nicht erreicht. Das Miteinander-Lernen, die gegenseitige großzügige Unterstützung sowohl in fachlicher als auch kollegialer Weise muss zwischen den Berufsgruppen immer wieder eingeübt und in der Praxis gelebt werden. Voraussetzung dafür ist ein respektvoller Umgang mit den Kompetenzen und dem Engagement der Angehörigen anderer Institutionen, aber auch eine offene und kritische Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten in der Kooperation.

Frühe Hilfen verfolgen neben den Zielen, die elterliche Erziehungskompetenz und Feinfühligkeit zu stärken, auch die allgemeine Gesundheitsförderung der betroffenen Kinder und ihrer Eltern (Pott). Letztere Zielsetzung richtet sich primär an die Eltern und nutzt Strategien der Aufklärung, der Informationsvermittlung und der Kompetenzen zu gesundheitsförderndem Verhalten. Wie in anderen Feldern der Gesundheitsförderung zeigt sich auch in den Modellprojekten – wie zum Beispiel in „Pro Kind“ –, wie schwierig sich Verhaltensveränderungen insbesondere bei hoch belasteten Menschen gestalten und dass oft nur kleine Effekte erreicht werden können (Jungmann et al.).

Forschungsprojekte sollten auf langfristige Effekte angelegt werden – dies bestätigen auch die Studien von Olds und anderen in den USA. Hier konnten nachhaltige Effekte bezüglich des Bildungserfolgs und der Vermeidung dissozialer Entwicklungen bei Jugendlichen berichten werden, deren Mütter durch frühe Unterstützungsangebote erreicht worden waren [1]. Effektive Hilfen in Familien mit oft transgenerationalen psychosozialen Belastungen gehen in der Regel mit dem Einsatz hoher zeitlicher und personeller Ressourcen einher, die oft über Jahre vorgehalten werden müssen, um sich auf die Gesundheit und soziale Integration der betroffenen Kinder positiv auswirken zu können. Weiterführende Untersuchungen zu längerfristigen Effekten, zu Kosten-Nutzen-Aspekten und vergleichende Untersuchungen zu Präventionsalternativen sowie zur Integration erfolgreicher Modellprogramme in die Versorgungspraxis sind weiter dringend erforderlich [2].

Die vorgestellten Ergebnisse aus den Modellprojekten und die flankierenden Überlegungen zur Organisation der Hilfesysteme zeigen, dass es keine Frühen Hilfen „light“ geben kann, zumindest nicht, wenn die Zielgruppe besonders belasteter Familien mit dem Angebot erreicht werden soll. Veränderungen im Verhalten von Eltern müssen durch eine Verbesserung der Lebensbedingungen von Familien mit jungen Kindern und eine Stärkung des gesellschaftlichen Bewusstseins über die Rechte der Kinder unterstützt werden. Beide, das heißt die Verhaltensprävention sowie auch die Verhältnisprävention sind wichtige Strategien, um die Schutzfaktoren zu fördern und Risken für gute Gesundheit, Entwicklung und Bildungserfolg zu mindern.

Ihre

Ute Thyen
Translated title of the contributionEditorial: Early childhood intervention - Relationship management with risks
Original languageGerman
JournalBundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz
Volume53
Issue number11
Pages (from-to)1117-1118
Number of pages2
ISSN1436-9990
DOIs
Publication statusPublished - 11.2010

Research Areas and Centers

  • Academic Focus: Center for Brain, Behavior and Metabolism (CBBM)

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