Der räumliche Neglekt stellt eine schwerwiegende und häufige kognitive Störung nach einseitiger (meist rechts-hemisphärischer) Hirnschädigung dar. Betroffene Patienten weisen eine ausgeprägte Vernachlässigung der einen Raumhälfte auf, die ihrer Hirnläsion gegenüberliegt. Der Neglekt zählt zu den wichtigsten Prädiktoren für eine schlechte funktionelle Erholung nach einem Schlaganfall. Eine anerkannte Therapie fehlt allerdings. Die pathophysiologische Grundlage des Neglekts soll eine interhemisphärische Imbalance einer mentalen Karte im Parietallappen sein, die für die Verschiebung von Aufmerksamkeit zu Objekten im Raum verantwortlich ist. Ob die Objekte in dieser Karte vorwiegend in egozentrischen Koordinaten (vor allem augenzentriert oder retinotop) oder eher in allozentrischen Koordinaten (Objekt-zu-Objekt) abgebildet sind, ist unklar. Ebenso ist die exakte Lokalisation der Hirnläsion, die zur Entwicklung eines Neglekts führt, immer noch Gegenstand anhaltender Diskussionen. Fortschritte in der funktionellen Bildgebung, die nun die Verbindung (Konnektivität) verschiedener Hirnbereiche in ganzen Netzwerken erfassen kann, scheinen beim Neglekt darauf hinzuweisen, dass dieser eher Folge einer globalen Störung ganzer Aufmerksamkeitsnetzwerke und nicht allein einer umschriebenen strukturellen Hirnläsion ist. Ziel des beantragten Projektes ist die Klärung dieser ungelösten Fragen zur räumlichen Aufmerksamkeit, die Untersuchung der zugrundeliegenden Verhaltensparameter und funktionellen Mechanismen sowie einer möglichen Behandlungsoption für den Neglekt. Dafür untersuchen wir gesunde Probanden, neurologische Patienten mit umschriebenen Hirnläsionen (Schlaganfallpatienten mit Neglekt) und Probanden mit einer transienten virtuellen Läsion im Parietallappen, induziert durch transkranielle Magnetstimulation (TMS). Die Methoden umfassen neuropsychologische Testverfahren (etablierte Papier-Bleistift-Tests aber auch neuartige computerisierte Verfahren), die Aufzeichnung von Augenbewegungen und eine sogenannte gaze-contingent display-Technologie zur Manipulation der räumlichen Wahrnehmung und Beeinflussung des Blickverhaltens, sowie schließlich strukturelle und funktionelle Magnetresonanztomographie, letztere in Ruhe sowie aufgabenbezogen, mit und ohne vorherige Anwendung von transkranieller Magnetstimulation.
Das geförderte Projekt beschäftigte sich in sechs verschiedenen Experimenten mit der Steuerung visuell-räumlicher Aufmerksamkeit durch das menschliche Gehirn sowie ihrer krankheitsbedingten Störung (Neglekt-Syndrom) bei Patienten mit akutem Schlaganfall. Dafür kamen sowohl bei gesunden Kontrollprobanden als auch bei Schlaganfall-Patienten mit Neglekt verschiedene neurowissenschaftliche Methoden zur Anwendung, darunter klinisch-neurologische Skalen und Verhaltensbeobachtungen, neuropsychologische Papier-und-Bleistift Tests aber auch computerisierte Verfahren, sowie die Augenbewegungsmessung mit Infrarot-Kamera-basierten Systemen, die den Blickpunkt (Fixation) eines Probanden in einer visuellen Szene jederzeit genau erfassen können und dank sogenannter gaze-contingent display Technologie sogar für eine blickortabhängige Beeinflussung des Suchverhaltens verwendet werden können. Zudem wurden verschiedene Untersuchungen im Kernspintomographen durchgeführt, wobei die Struktur des Gehirns, seine Funktion bei Aufgaben zur räumlichen Aufmerksamkeit (aufgabenbezogene Hirnaktivierungen) und sogenannte Ruhenetzwerke unter mehrminütiger völliger Entspannung des Probanden analysiert wurden. Zudem kam die transkranielle Magnetstimulation (TMS) als nicht-invasives Hirnstimulationsverfahren zum Einsatz, mit dem Ziel bestimmte kortikale Hirnregionen bei Gesunden vorübergehend zu hemmen („virtuelles Läsionsmodell“), um die Auswirkungen auf die Aufmerksamkeits-Ruhenetzwerke zu untersuchen. Die Hauptergebnisse und ihre Implikationen waren: (I) Die krankheitsbedingte Verschiebung der Aufmerksamkeit in die rechte Raumhälfte kann bei Patienten mit linksseitigem Neglekt nach rechtshirnigem Schlaganfalls durch Messung der Augenposition sicher quantifiziert werden und sie korreliert signifikant mit der funktionellen Beeinträchtigung der Patienten in Alltagsaktivitäten. (II) Bei gesunden Probanden lässt sich durch Einsatz von gaze-contingent displays ein Neglekt-ähnliches Suchverhalten induzieren, indem der visuelle Eindruck einer Szene im linken Halbfeld durch eine blickortabhängige Maske kontinuierlich reduziert wird. Dies unterstreicht auch die Bedeutung retinotoper (Netzhaut-zentrierter) Koordinaten bei der mentalen Repräsentation von Objekten im Raum während der Verschiebung von Aufmerksamkeit. (III) Erste vorläufige Ergebnisse sprechen dafür, dass der Einsatz von gaze-contingent displays auch zu einer Verbesserung des Suchverhaltens von Neglekt-Patienten führen kann und damit eine mögliche zukünftige Therapieoption in der Rehabilitation darstellt. (IV) Neglekt-Patienten weisen in der MRT-Untersuchung des Gehirns strukturelle Schäden des ventralen und zusätzlich Funktionsstörungen des dorsalen Aufmerksamkeitsnetzwerkes auf. Letzterem zugeordnet wird der rechte obere Parietallappen, der zwar meist strukturell vom Schlaganfall verschont blieb, aber funktionell eine reduzierte Spontanaktivität beim ruhenden Patienten im MRT aufwies, die hochsignifikant mit der Neglektbedingten Behinderung im Alltag korrelierte. Dies unterstreicht die besondere funktionelle Relevanz dieser Hirnregion aber auch allgemein intakter Ruhenetzwerke für die räumliche Aufmerksamkeit. (V) Die Hirnaktivierungen, die durch einen bewegten visuellen (optokinetischen) Stimulus bei Schlaganfallpatienten mit Neglekt ausgelöst werden, sind zwar deutlich geringer als bei Gesunden (und am schwächsten bei Patienten mit dem schwersten Neglekt), allerdings immer noch so weitverteilt im Gehirn, dass sie eine mögliche erklärende neuronale Grundlage für die positiven Effekte der optokinetischen Stimulation in der Rehabilitation von Neglekt-Patienten darstellen. (VI) Die Induktion Neglekt-ähnlicher Netzwerkveränderungen oder Verhaltensmuster durch lokale Hemmung parietaler bzw. temporo-parietaler Regionen bei Gesunden gelang trotz zielgenauer (neuro-navigierter) TMS nicht. Die Ursache für dieses Negativergebnis liegt am ehesten in dem verwendeten offline theta-burst TMS-Protokoll, deren Effekte vermutlich schwächer sind bzw. früher abklingen als bisher in der Literatur beschrieben. Davon leitet sich die klare praktische Empfehlung ab, in zukünftigen verwandten Studien alternative Stimulationsverfahren einzusetzen.