In der Bundesrepublik Deutschland werden jährlich über sechs Millionen chirurgische Eingriffe durchgeführt. Über 75 Prozent der Patienten erleiden postoperativ, also nach der Operation, zum Teil schwere Schmerzen, die trotz einer schmerztherapeutischen Behandlung auf der Basis derzeitiger wissenschaftlicher und klinischer Erkenntnisse nicht immer ausreichend behandelt werden können. Nicht selten können Schmerzen nach chirurgischen Eingriffen auch über die Akutphase und die erwartete normale Heilungszeit hinaus persistieren, das heißt andauern. Das Eintreten persistierender Schmerzen beträgt in Abhängigkeit von Art und Ausmaß der Operation bis zu 50 Prozent. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass persistierende Schmerzen in eine chronische Schmerzkrankheit übergehen, die nicht selten zu Invalidität und zu ausgeprägter Inanspruchnahme des Gesundheitssystems führt. Sowohl das Ausmaß solcher postoperativer Schmerzen als auch die Wahrscheinlichkeit für den Übergang in persistierende Schmerzen wird durch Faktoren vor, während und nach der Operation beeinflusst.
Ziel dieser Klinischen Forschergruppe ist es, in interdisziplinärer Zusammenarbeit der Disziplinen Anästhesiologie und Schmerztherapie, Humangenetik, Pharmakologie, Physiologie, Neurologie und Physiologische Psychologie mit grundlagen-, krankheits- und patientenorientierten Ansätzen neurobiologische, pharmakologische, genetische und psychosoziale Faktoren der postoperativen Schmerzverarbeitung zu identifizieren und Konstellationen zu charakterisieren, die akute postoperative Schmerzen bestimmen und den Übergang von akuten zu persistierenden Schmerzen begünstigen.
Auf dieser Grundlage können erkenntnisbasierte perioperative Screeningparameter, Therapieansätze und Interventionsstrategien entwickelt werden, um postoperative Schmerzen effektiver zu behandeln und der Entwicklung persistierender Schmerzen bei entsprechenden Risikopatienten vorzubeugen.
Klinisch gebräuchliche Anästhetika und Analgetika können durch Interaktion mit nozizeptiven Membranproteinen zu pronozizeptiven Effekten führen. So aktivieren Lokalanästhetika in klinisch relevanten Konzentrationen die TRP-Kanäle TRPV1 und TRPA1 in nozizeptiven Neuronen und vermitteln damit die Ausschüttung von CGRP, einem Schlüsselelement der neurogenen Entzündung. Dieser Effekt führt zur Modulation der peripheren Nozizeption und trägt zur mechanistisch bislang unklaren Neurotoxizität von Lokalanästhetika bei. Lidocain-Pflaster, die zur Behandlung der postherpetischen Neuralgie und anderer schmerzhafter Neuropathien eingesetzt werden, reduzieren reversibel mechanisch-, nicht aber thermisch-induzierte Schmerzen und führen zu einer signifikanten Abnahme der epidermalen Nervenfaserdichte. Die Abnahme der Nervenfaserdichte durch Lidocain bei transdermaler Applikation im Sinne einer Neurotoxizität ist damit – im Gegensatz zu der durch Capsaicin – vermutlich nicht vorwiegend TRPV1- bzw. TRPA1- vermittelt. TRPV1 und TRPA1 konnten als Schlüsselmoleküle der Propfol-induzierten Exzitation sensorischer Neurone identifiziert werden. Es ist inzwischen unstrittig, dass dieser Mechanismus dem Injektionsschmerz bei Applikation von Propofol zugrunde liegt. Auch für das Anästhetikum Etomidat konnten algogene Eigenschaften durch direkte und indirekte Aktivierung von TRPA1 und TRPV1, Ausschüttung von Neuropeptiden mit folgender neurogener Entzündung und Schmerz bei intradermaler Applikation gezeigt werden. Nicht vollständig geklärt ist nach wie vor die Frage der klinischen Relevanz der Nozizeptor-Aktivierung, insbesondere für die postoperative Phase. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass die Modifikation der nozizeptiven Membranproteine NaV1.8 und TRPA1 im Rahmen der Entstehung der diabetischen Neuropathie durch den potenten glykierenden Glykolyse-Metabolit Methylglyoxal (MG) eine bedeutende Rolle spielt. Zum einen modifiziert MG den Natriumkanal NaV1.8 und erhöht damit die elektrische Aktivität nozizeptiver Neurone. Durch die Bildung von Disulfid-Brücken auf der Basis der MG-induzierten Modifikation von Cystein-Resten aktiviert MG auch TRPA1 und stimuliert die Ausschüttung proinflammatorischer Neuropeptide. Die Blockade von TRPA1, die Reduktion der Bildung von MG oder die Neutralisation von MG sind damit therapeutische Optionen für die Prävention und Behandlung der diabetischen Neuropathie.